Ausgewählte Erwerbungen der Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz
(1871 - 1912)
Steen, Anna: Ein Zigeunerkind als Diakonissin
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Der von der Kinder- und Jugendbuchabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin 2016 erworbene Band ist ein Zeugnis für die Darstellung von Sinti und Roma im Kinderbuch. "Zigeuner"-Figuren sind bereits seit den Anfängen der Kinder- und Jugendliteratur in allen literarischen Gattungen vertreten. Während im Bereich der Literatur- und der Gesellschaftswissenschaften in den letzten Jahren eine Reihe wichtiger Veröffentlichungen zu diesem Thema erschien, fehlt in der Kinder- und Jugendliteratur bisher eine fundierte wissenschaftliche Bestandsaufnahme, was nicht zuletzt an der unzureichenden Quellensituation liegt. Anlässlich einer Fachtagung über "Zigeuner"-Bilder in Kinder- und Jugendmedien wurde explizit auf dieses Manko hingewiesen. Daraufhin erwarb die Staatsbibliothek zu Berlin gezielt eine Reihe von historischen Kinderbüchern zu diesem Thema, zu denen auch der kleinformatige Band der Bremer Schriftstellerin Anna Steen gehört. Erzählt wird die Geschichte der zwölfjährigen "Zigeunerin" Hanna, die mit ihrer Mutter, ihren Geschwistern und ihrem Stiefvater in ärmlichsten Verhältnissen in einer Wagensiedlung am Rand von London lebt. Durch den Kontakt zu einer blinden jungen Frau aus bürgerlicher Familie und mit Hilfe einer frommen älteren "Zigeunerin" lernt Hanna ein anderes Lebensmodell kennen. Sie wird in Lesen und Schreiben unterrichtet und mit dem christlichen Glauben bekannt gemacht. Obwohl Hannas Gönner ihr Talent als Sängerin fördern wollen und anbieten, ihr eine musikalische Ausbildung zu ermöglichen, bleibt sie bei ihrer Familie und übt auf diese einen positiven Einfluss aus. Trotz der sentimentalen Handlung und der deutlich erkennbaren Missionierungsabsicht der Autorin ist die Darstellung der "Zigeuner" – in Anbetracht der Entstehungszeit des Buchs – vergleichsweise differenziert. Auch wenn die Autorin die zeittypischen "Zigeuner"-Stereotype wie Unwissenheit, Unsauberkeit und Hang zur Kriminalität bedient, ist Hanna ein aufgewecktes, an Bildung interessiertes Kind und auch andere Familienmitglieder lassen sich durch ihr Beispiel überzeugen. Damit stellt dieses Buch ein interessantes Beispiel für die Behandlung des "Zigeuner"-Motivs in der Kinder- und Jugendliteratur dar. Durch die Aufnahme in die Sammlung der Kinder- und Jugendbuchabteilung steht es nun für weitere wissenschaftliche Auswertungen zur Verfügung.