Ausgewählte Erwerbungen der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen
(1701 - 1800)
[Heinrich Müller], Papiere aus Lyndaminens Brieftasche, Köln [i.e. Leipzig] 1799.
(Erworben von der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Signatur: DD2020 A 94)
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Die Veröffentlichung der „Papiere aus Lyndaminens Brieftasche“, so klagte ein anonymer Beiträger des Allgemeinen Litterarischen Anzeigers, sei ein eindeutiger Beweis für das wild grassierende „infame Gewerbe mit sauischen Büchern“ (Allgemeiner Litterarischer Anzeiger, Nr. 152, 27.9.1799, Sp. 1511). Jeder Buchhändler mit moralischen Grundsätzen könne nur empört sein über Geschäftsgebaren wie die eines gewissen Heinrich Müllers, der seinen Rechnungen folgende Werbung beifügte: „Zugleich mache ich Ihnen bekannt, daß die neue Auflage von Amor’s experimental-physikalischem Taschen-Buche. 1 Bändchen. Mit 17 fein illuminierten Kupfern unter dem Titel: Papiere aus Lyndamine’ns Brieftasche […] erscheinen wird u.s.w. Jedoch muss ich um ihre dießfalsige Bestellungen in verschlossenen Briefen bitten“.
Diese Bitte hatte durchaus ihre Berechtigung: Bei dem Werk handelt es sich um eine der explizitesten pornographischen Schriften der Aufklärung. Das schmale Bändchen im Duodezformat bietet eine Vielzahl obszöner Anekdoten und Geschichten um alternde Wüstlinge, nymphomane Fürstinnen, geschändete Jungfrauen, sodomitische Nonnen, kundige Dirnen und anderes mehr. Ergänzt werden diese Schilderungen u.a. von recht zweifelhaften Ratschlägen zur Vermeidung von Geschlechtskrankheiten sowie von einem „Gesundheits-Katechismus für Lebensleute“. Großen Anstoß erregten vor allem die Kupferstiche. Dazu zählen beispielsweise die Darstellung der sogenannten englischen Stimulationsmaschine sowie eine ausklappbare Karte des Heiligen Landes als Frauenkörper. Der stilisierte Kopf und Torso werden in sieben Gebiete aufgeteilt und sind mit erotisch doppeldeutigen Landschafts- und Ortsbezeichnungen versehen.
Aus den Erfahrungen mit „Amors experimental-physikalischem Taschenbuch“ klug geworden, das kaum aus dem Druck im Frühjahr 1798 von der Leipziger Bücherkommission beschlagnahmt worden war, wählte man für den Nachdruck einen unverfänglicher klingenden Titel. Vorbildgeber war der französische pornographische Roman „Lyndamine ou L‘Optimisme de pays chauds“. Für das Sujet nicht unüblich blieben der Autor und der Kupferstecher anonym, der Verleger verbarg sich hinter dem bekannten fingierten Impressum Peter Hammer in Köln. Als Illustrator, Herausgeber und vermutlich auch Autor lässt sich der Leipziger Kupferstecher Heinrich Müller identifizieren, der das Werk über den Buchhändler Johann Ernst Daniel Bornschein vertreiben ließ. Sowohl die „Papiere aus Lyndaminens Brieftasche“ als auch die erste Ausgabe „Amors experimental-physikalisches Taschenbuch“ gehören heute zu gesuchten Raritäten, die nur sehr selten im Bibliotheksbesitz nachzuweisen sind. Im Fall der „Papiere aus Lyndaminens Brieftasche“ ist die Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, soweit bekannt, weltweit die einzige bestandshaltende Institution.